Interview über zukünftige Entwicklung in der Bauindustrie
Redaktion: Herr Seidler, wie wird sich die Bauindustrie in den kommenden zehn Jahren verändern?
Patrick Seidler: Die nächsten Jahre werden hochspannend und zahlreiche Veränderungen in der erweiterten Bauindustrie mit sich bringen. Das Ziel der Bundesregierung, die CO2-Emissionen in Deutschland bis 2045 auf Netto-Null zu senken, hat deutliche Auswirkungen auf die Bauindustrie. Denn allein die Herstellung und Nutzung von Gebäuden trägt ca. 38% zu den Gesamtemissionen in Deutschland bei. Der Investitionsbedarf für Sanierung und Renovierung von Gebäuden wird in den kommenden Jahren daher massiv steigen. Gleichzeitig erwarten wir eine weitere Verschärfung des Fachkräftemangels sowie eine deutliche Konsolidierung der Branche aufgrund fehlender Nachfolge und kontinuierlich wachsenden Anforderungen an Unternehmen. Bereits heute haben wir einen deutlichen Nachfrageüberhang in der Bauindustrie. Einer weiter steigenden Nachfrage kann daher – neben einer vereinfachten Gesetzgebung – nur über digitalisierte Prozesse und Planungen sowie mit einer effizienten Steuerung der Projekte begegnet werden.
Redaktion: Wo sehen Sie die größten Herausforderungen bzw. den größten Handlungsbedarf?
Patrick Seidler: Um die Klimaziele bis 2045 zu erreichen, muss die Sanierungsquote von heute ca. 1,3% auf 1,8% erhöht werden. Dies kann nur gelingen, wenn die Politik auf der einen Seite regulatorische Schranken abbaut sowie Normen, Gesetze und Genehmigungsprozesse deutlich vereinfacht. Auf der anderen Seite ist der Personalmangel eine zentrale Herausforderung, der z.B. über eine Ausbildungs- und Fachkräfteoffensive begegnet werden kann – auch in Verbindung mit vereinfachter Zuwanderung qualifizierter Personen. Gleichzeitig steigt die Komplexität der Bauvorhaben kontinuierlich. Das betrifft neben der Vernetzung des Gebäudes auch die zunehmende Konvergenz der Gewerke, z.B. bei Dach und Fassade oder mit Blick auf Heizungs- und Elektroinstallation. Diese Entwicklung bringt gerade für kleinere Betriebe herausfordernde Investitionserfordernisse mit sich – einerseits in die Fortbildung der Mitarbeiter, andererseits in die technischen Möglichkeiten des Unternehmens.
Redaktion: Worin liegt das besondere Potenzial intelligenter Gebäude bei der Reduktion von CO2-Emissionen?
Patrick Seidler: Die Nutzungsemissionen stehen für ca. drei Viertel der gesamten Gebäudeemissionen. Hersteller, die dies bereits heute im Blick haben und aktiv CO2-reduzierende Lösungen anbieten, können sich im Wettbewerb klar differenzieren und einen Mehrwert für ihre Kunden schaffen. Ein schönes Beispiel ist die Digitalisierung und Automatisierung im Bereich der intelligenten Gebäudesteuerung und -nutzung zur Reduktion des Energiebedarfs, insbesondere in größeren Gebäuden. So können Mitarbeiter in einem Büro je nach Auslastung der Flächen tagesaktuell einen Arbeitsplatz in nur einem Teil des Gebäudes zugewiesen bekommen, was zu einer Einsparung von Heizkosten und CO2 führt. Sensoren können zudem Temperatur und Sonneneinstrahlung messen und so eigenständig Beschattung, Lüftung, Heizung und Kühlung bei Bedarf steuern, ohne dass die Heizung oder Kühlung durchgehend läuft und unnötig Kosten und CO2 erzeugt.
Redaktion: Durch die Digitalisierung der Gebäudehülle wird die Installation zukünftig wohl immer komplexer. Wie kann und sollte die Bauindustrie hierauf reagieren?
Patrick Seidler: Diese Entwicklung beobachten wir schon seit längerer Zeit – neben Veränderungen innerhalb der klassischen Kompetenzen kommen insbesondere im Bereich der Elektronik laufend neue Anforderungen hinzu. Damit sind gerade kleinere Hersteller, aber auch Installationsbetriebe oftmals überfordert, da die benötigten Anforderungen kurz- und mittelfristig organisch nicht aufgebaut werden können. Ein wesentlicher Lösungsansatz liegt in der Bündelung von Kompetenzen mehrerer Hersteller oder Installationsbetriebe über M&A-Aktivitäten. In unserer Befragung von über 500 Unternehmen der Bauindustrie haben allerdings je nach Segment nur maximal 30% der Betriebe bisher überhaupt Berührungspunkte mit anorganischem Wachstum gehabt. Gerade im M&A-Prozess und der anschließenden Integration in ein neues Unternehmen gibt es einige Untiefen, die über den Erfolg oder Misserfolg einer Transaktion entscheiden können. Zusätzlich erwarten wir eine deutlich stärkere Verschränkung von Planern, Herstellern, Handel und Installateuren, um die kommenden Anforderungen an Bauprojekte effizient abdecken zu können.
Redaktion: Inwiefern wird die Digitalisierung das Verhältnis zwischen Herstellern, Händlern und Planern bzw. ausführenden Unternehmen verändern?
Patrick Seidler: Planungsbüros erwarten unserer Erfahrung nach aufgrund der deutlich ansteigenden Komplexität der Bauprojekte immer öfter Unterstützung durch Hersteller. Dies bietet Herstellern mit einem aktiven Vertriebsansatz einen deutlichen Differenzierungsvorteil. Denn sie begnügen sich nicht mit dem Versenden des aktuellen Produktkatalogs, sondern können sich vielmehr als Partner der Planer positionieren und Planungsunterstützung anbieten, gerade bei komplexeren Bauvorhaben. Gleichzeitig erwarten Installateure vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels, der hohen Auslastung sowie kontinuierlich steigender Komplexität deutlich umfangreichere Installationsunterstützung vom Hersteller als noch vor einigen Jahren, z.B. über eine Handy-App. Im Hinblick auf Ressourcenknappheit und gleichzeitiger Zunahme von „Just-in-time“-Baustellenanlieferungen kommt dem Handel immer stärker die Rolle des strukturierenden Koordinators zu, der eng mit der Bauleitung vor Ort vernetzt sein muss und intern durch optimale Prozesse glänzen sollte.
Redaktion: Stichwort Fachkräftemangel: Durch die Wiedereinführung der Meisterpflicht ist die Wettbewerbsfähigkeit kleiner Handwerksbetriebe wohl erneut gesunken. Wie bewerten Sie diese Entwicklung? Wie lässt sich hier gegensteuern?
Patrick Seidler: Die Qualität der Arbeit ist weiterhin ein zentrales Erfolgskriterium, jedoch sehen wir gerade in Ballungsräumen mittelfristig einen Nachfrageüberhang, der kaum zu einer sinkenden Auslastung der Betriebe führen wird. Allerdings verändert sich das Anforderungsprofil der Kunden an Handwerks- und Installationsbetriebe: Gerade kleine Betriebe können komplexere Anforderungen immer seltener vollumfänglich abbilden, was langfristig entweder zu einem Ausscheiden der Betriebe aus dem Markt führt oder den Zusammenschluss von Betrieben erfordert. Ein aktiver M&A-Ansatz kann hier die Basis für langfristigen Erfolg legen.
Redaktion: Welche Rolle wird die On-Time-Baustellenanlieferung zukünftig spielen?
Patrick Seidler: Die gesamte Bauindustrie ist aktuell stark auf das Thema Materialverfügbarkeit fokussiert. Auch wenn derzeit einige Sondereffekte die Herausforderungen zusätzlich verstärken, beobachten wir immer engere Zeitfenster für Materialanlieferungen für die einzelnen Gewerke. Fehlen diese Materialien oder werden diese zu spät geliefert, kann im schlechtesten Fall die gesamte Wertschöpfungskette stocken. Daher ist eine maximale Transparenz des Baufortschritts über alle Gewerke hinweg essenziell und eine im besten Fall stundengenaue Anlieferung der Materialien erfolgskritisch, um Kosten einzusparen und die Effizienz zu maximieren.
Redaktion: Wie kann die Implementierung digitaler Strukturen und Planungsmethoden zukünftig gewährleistet werden?
Patrick Seidler: Mit der seit 2021 bestehenden BIM-Pflicht für die Vergabe öffentlicher Aufträge sowie bei großen Bauprojekten ist die Anwendung von BIM und dem digitalen Zwilling schon recht weit fortgeschritten, bei mittleren und kleineren Projekten ist man noch ein Stück entfernt. Eine engere Verzahnung von Planern, Herstellern, Handel und Installationsbetrieben ist hierbei wichtig, sowohl bei den Prozessen, den Spezifikationen als auch bei der Baustellenlogistik. Gerade bei kleineren Projekten werden die Kundenanforderungen hinsichtlich Effizienz in der Bauphase, aber v.a. auch in der Bewirtschaftung in den nächsten Jahren deutlich ansteigen – Unternehmen, die nicht in der Lage sind, diese Anforderungen umzusetzen werden mittelfristig kaum noch eine Chance am Markt haben. Daher ist es wesentlich, sich bereits heute darüber im Klaren zu sein, ob die benötigten Fähigkeiten organisch aufgebaut werden können oder ob ein gezielter Zukauf effizienter ist.
Redaktion: Wie kann die Politik die Digitalisierung der Bauindustrie bestmöglich unterstützen?
Patrick Seidler: Über die vergangenen Jahre hinweg sind die Anzahl an Normen, Verfahren und Gesetzen massiv angestiegen. Die Folge waren steigende Kosten, verlangsamte Umsetzung und eine hohe Komplexität bei Bauprojekten. Eine Verschlankung und Vereinheitlichung würden hier allen Akteuren helfen und gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit für das Erreichen der CO2-Ziele deutlich erhöhen. Darüber hinaus sollte die Politik den Zuzug von Fachkräften deutlich erleichtern, um die steigenden Anforderungen an die Digitalisierung am Bau erfüllen zu können. Zusätzlich sollte die Anreizstruktur bzgl. der Gebäudesanierung überprüft werden, sodass die Gesellschaft bei der CO2-Reduktion ganzheitlich an einem Strang zieht, z.B. über Subventionen oder steuerliche Anreize.
Redaktion: Welche Empfehlungen würden Sie Bauunternehmern mit auf den Weg geben, um sich optimal auf zukünftige Veränderungen einzustellen?
Patrick Seidler: Unternehmer sollten in einem ersten Schritt klar herausarbeiten, welche Kundenbedarfe an das Unternehmen heute gestellt werden und welche Entwicklung hierbei in den nächsten Jahren erwartet wird. Auf dieser Basis sollte klar herausgearbeitet werden, welche Kompetenzen intern bereits vorhanden sind, welche selbst aufgebaut werden können und was ggf. zugekauft werden muss. Auf Basis dieser individuellen Strategie sollte auch ein Verkauf von nicht mehr benötigten Kompetenzen bzw. Unternehmensteilen nicht ausgeschlossen werden, um so die Komplexität im Unternehmen möglichst gering zu halten.
Mit über 10 Jahren Erfahrung als Geschäftsführer, Berater und Manager mit Fokus auf Corporate- und Investor-Akquisitionen ist Patrick Seidler ausgewiesener Experte für M&A – sowohl für Buy- als auch Sell-Side-Mandate. Er sammelte umfangreiche Erfahrungen im Deals-Bereich von PwC, im Vorstandsstab von Hubert Burda Media sowie im Rahmen von M&A- und Strategie-Projekten für nationale und internationale Kunden in Europa und Asien. Patrick Seidler absolvierte sein Master-Studium an der Amsterdam Business School und ist als Gastdozent an der Universität Passau tätig.
Der Beitrag Interview über zukünftige Entwicklung in der Bauindustrie erschien zuerst auf FASSADEN Fachzeitung - Fassadentechnik Gebäudehülle.